Elementar, mein lieber Watson

Sherlock Holmes ist eine der langlebigsten, literarischen Figuren. Der Werkkanon seines Schöpfers Arthur Conan Doyle ist mit vier Romanen und 56 Kurzgeschichten verhältnismäßig bescheiden, doch neue Autoren sorgten immer wieder dafür, dass der Meisterdetektiv und sein Adlatus Watson weiter ermitteln konnten. Die Bandbreite der zahllosen Veröffentlichungen reicht von neuen Fällen im klassischen Stil (bspw. von Anthony Horowitz, Nicholas Meyer), Erweiterungen („Mary Russell/Sherlock Holmes“-Reihe von Leslie R. King), Interessantem („Schatten über Baker Street“, Holmes/Lovecraft-Crossover) bis hin zu Kuriosem („Victoria undead“).

„Elementar, mein lieber Watson“ ist eine Anthologie aus dem Kampa-Verlag, die weitestgehend auf Experimente verzichtet. Namhafte Autoren wie Stephen King, Anne Perry und Anthony Horowitz bleiben im viktorianischen Zeitalter und setzen Holmes und Watson in fünf Kurzgeschichten und einer Novelle auf neue Ermittlungen an.

Im Gesamten eine durchwachsene Sammlung. Das Buch ist mit seinem markanten, roten Buchschnitt wertig aufgemacht und bietet mit den beiden Kleinoden „Die drei Königinnen“ und „Der Fall des Doktors“ zwei Vier-Sterne-Stories zum Einstieg. Die nachfolgenden vier Geschichten pendeln nach meinem Empfinden zwischen drei und dreieinhalb Sternen. Somit ist kein Ausfall zu verzeichnen, aber dem wenigen Gutklassigen steht auch viel Durchschnitt gegenüber.

Im Meer der Holmes-Pastiches dennoch eine Empfehlung für jene, die lieber etwas Neues, statt zum wiederholten Male „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“, „Studie in Scharlachrot“ oder „Der Hund der Baskervilles“ lesen wollen.

– Story für Story –

„Die drei Königinnen“
Anthony Horowitz

Die Beute eines in Notwehr getöteten Einbrechers gibt Inspektor Lestrade Rätsel auf: Drei wertlose Nippes-Figuren von Königin Viktoria, die allesamt aus benachbarten Häusern entwendet wurden. – Anthony Horowitz ist v. a. durch seine Jugendbuchreihe rund um Alex Rider („Stormbreaker“) bekannt. Davor und danach hat er auch Krimis geschrieben, darunter die exzellenten Sherlock-Holmes-Pastiches „Sherlock Holmes und das weiße Band“ und „Der Fall Moriaty“, sowie Drehbücher etlicher britischer Crime-Serien wie „Agatha Christie’s Poirot“ und „Midsumer Murders (Barnaby)“. Wenig überraschend, ist die Geschichte handwerklich top und kann sogar das Extra-Lob erhalten, sich wie eine unveröffentlichte Geschichte von Conan Doyle zu lesen. Ein cleverer Plot und eine stimmige Atmosphäre machen den Einstieg zu einem Lesevergnügen. Kein Überflieger, aber starke 4 Sterne.

„Der Fall des Doktors“
Stephen King

Inspektor Lestrade hat ein Rätsel für Holmes, dem er nicht widerstehen kann: Ein Mord in einem verschlossenen Raum. – Stephen King, so glaube ich, braucht keine Vorstellung. Es sei erwähnt, dass sein Beitrag in dieser Sammlung den Klappentext („Neue Fälle für Sherlock Holmes“) Lügen straft. „Der Fall des Doktors“ ist allenfalls gegenüber den Werken Conan Doyles als neu zu bezeichnen, denn „Der Fall des Doktors“ hat schon über 30 Jahre auf dem Buckel und ist auf Deutsch bereits seit 1996 in der King-Sammlung „Albträume“ erhältlich. Kein neues Futter also, doch einerseits dürfte das eher für eingefleischtere King-Fans wie mich gelten, und andererseits wird die Beteiligung des bekannten Schriftstellers der Sammlung sicher den ein oder anderen interessierten Leser zugreifen lassen. Zu der Geschichte selbst: King erzählt in seinem üblich gefälligen Stil, der etwas moderner gehalten ist, als die übrigen Autoren in der Sammlung. Die Atmosphäre einer Holmes Geschichte trifft er aber doch recht gut. Der Plot ist etwas konstruiert, aber clever. Den Spaß, den Mr. King offenbar beim Schreiben dieser Geschichte hatte, schwappt auf den Leser über. Wohlwollende 4 Sterne.

„Verkleidung schadet nicht“
Alan Bradley

Eine seltsame Begegnung im Park. – Von den vier internationalen Autoren der Sammlung habe ich von Alan Bradley bisher nichts gelesen. Sein Beitrag in dieser Anthologie weckt aber auch nicht den Wunsch dafür. Für eine Kurzgeschichte ist es immer sehr unvorteilhaft, wenn dem Leser bereits zu Anfang klar ist, wie sie ausgehen wird. Die kürzeste Geschichte der Sammlung ist stilistisch gut, trifft die Holmes-Atmosphäre, bietet aber kaum Handlung und das Ende ist, wie erwähnt, sehr vorausschaubar. Mehr als drei Sterne sind nicht drin.

„Die Mitternachtsglocke“
Anne Perry

Eine junge Dame sucht Sherlock Holmes auf, da sie die Vermutung hegt, ihre Schwester beabsichtigt aus Erbgründen die Ermordung ihres Vaters. – Anne Perry, die Dutzende (!) viktorianischer Krimis geschrieben hat, ist geradezu prädestiniert, eine Sherlock-Holmes-Geschichte zu erzählen. „Die Mitternachtsglocke“ ist ein bisschen vorausschaubar – nicht wirklich viele, logische Optionen für den Täter – aber die Altmeisterin begeistert ebenso wie in ihren Büchern durch pointierte Dialoge, eine gute Schreibe und trifft die spezielle Atmosphäre einer Sherlock-Holmes-Geschichte gut. Dreieinhalb Sterne.

„Das Geheimnis von Compton Lodge“
Peter Jackob

Ein kalter Winter geht an der Gesundheit von Dr. Watson nicht spurlos vorüber. In Fieberträumen scheint eine verdrängte Erinnerung ausgegraben zu werden und im Delirium fleht er seinen Freund Holmes um Hilfe an. Als die beiden sich auf die Spuren von Watsons‘ Vergangenheit begeben, geraten sie in Machenschaften, die bis in die Gegenwart hineinreichen … –
Mit rund 90 Seiten ist „Das Geheimnis von Compton Lodge“ der längste Beitrag der Sammlung. Die Novelle profitiert anfangs auch davon, die Spannung aufbauen zu können. Das viktorianische England und die beiden Charaktere Holmes und Watson werden sehr gut getroffen. In der zweiten Hälfte überschlagen sich die Ereignisse, Holmes‘ Schlussfolgerungen wirken gewollt und die Auflösung zu gehetzt. Insgesamt entsteht der Eindruck, der Autor habe lieber einen Roman schreiben wollen und ihn massiv gekürzt. Schade. Dreieinhalb Sterne.

„Sherlock Holmes und der Anthraporagasm“
Klaus-Peter Walter

Holmes und Watson werden in ihrem Griechenland-Urlaub mit einem unheimlichen See-Dämon konfrontiert – Wenn man so will, ist diese Geschichte mit ihrem Phantastik-Einschlag wahlweise der Farbklecks in der Sammlung oder deren störender Fremdkörper. Auf der Haben-Seite stehen die phantasievollen Einfälle, allerdings liest sich das Ganze etwas zäh und spannungsarm. Holmes und Watson werden nach meinem Empfinden auch nur leidlich gut getroffen. Drei Sterne.

Fazit

Eine durchwachsene Sammlung. Keine der Geschichten war ein absoluter Überflieger, dafür fanden sich bei nur sechs Geschichten leider vier durchschnittliche. Im Meer der Holmes-Pastiches eine bedingte Empfehlung für jene, die lieber etwas Neues, statt zum wiederholten Male „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“, „Studie in Scharlachrot“ oder „Der Hund der Baskervilles“ lesen wollen. Dreieinhalb Sterne.

Buchdaten

erschienen im Kampa Verlag
ISBN: 9783311125082
gebundene Ausgabe, 272 Seiten
Preis: 17,90 €

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Rob Reef „Der Haytor Fall“


3…
2…
1…
und schon ist es vorbei und der Fall ist geklärt.
Kurzkrimis oder auch Kurzgeschichten sind wie kleine Appetithäppchen für zwischendurch. Nicht umsonst gibt es den Spruch „In der Kürze liegt die Würze“.
Allerdings muss man an einen Kurzkrimi andere Ansprüche stellen, als an einen Krimi in einer umfangreicheren Länge.
Personen und Handlung sind auf das Minimum reduziert und allzu viele Taschenspielertricks sind nicht möglich. Die ermittelnden Detektive werden nur kurz in ihren Fähigkeiten angerissen; man sollte als Leser vielleicht auch nicht mit dem Kurzkrimi anfangen, dann würde man die Ermittler auch schon besser kennen.
In „Der Haytor Fall“ will Sir Perceval Holmes sich auf dem Heimweg nur mal eben den berühmten Haytor-Felsen anschauen und doch bleibt er längere Zeit verschwunden. Nachdem Professor John Stableford sich schon Gedanken um seinen Heimfahrt gemacht hat, wird er zu Sir Perceval Holmes berufen. Denn Holmes hat einen Sturz vom Felsen beobachtet. Unfall? Selbstmord? Mord?
Professor Stableford und Sir Holmes legen in einem Schnelldurchlauf die Fakten auseinander und der typische englische Charme sprüht von jeder Seite.
Kurz und knackig, gerade die Länge für einen High tea, ist der Kurzkrimi unterhaltsam und einige versteckte Andeutungen an Doyle und Christie lassen den Leser schmunzeln.
Demnächst gibt es die beiden auch mal in der Extended Version. Mal schauen, was sie dann können.

4 von 5 Gesteinsformationen

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L. A. Gunn „Londons Lost“

Mit „Londons Lost“ erschien kürzlich ein neues, von Sherlock Holmes  inspiriertes Werk. Wer einen eher traditionellen, stringent erzählten Krimi erwartet, dürfte überrascht werden. Der Roman hat einen episodischen Aufbau. In einer Rahmenhandlung, die mit den Whitechapel-Morden 1888 (Jack the Ripper) beginnt, wird erzählt, wie  sich Holmes dem Waisenmädchen June annimmt, sie als Mentor ausbildet und schließlich zum Teil seiner Baker Street Irregulars (Straßenkinder) macht. Im Verlauf des Buches lernt June Lilah aus gutem Hause kennen, die mit ihr im Auftrag von Holmes gemeinsam mehrere Fälle löst. 

Das Buch richtet  sich  zwar nicht  explizit an​ Jugendliche, doch mit seinen jungen Protagonistinnen  und einer modern gehaltenen,  schlichten Sprache erinnert es mehr an „Enola Holmes“, „Shirley Holmes“ oder auch „Die drei ???“ als an „Der Hund von Baskerville“. Trotz des Vorkommens von Holmes, Watson und den Baker Street Irregulars wirkt es auf mich daher mehr wie eine Hommage, als ein Pastiche. Es sei lobend erwähnt, dass die Autorin trotz der modernen Ausrichtung ein stimmiges Bild der viktorianischen und edwardianischen Ära zeichnet und  mit kleinen Anspielungen auch  gute  Kenntnisse des Holmes-Werkkanons  unter Beweis stellt. 

Der erste Band der Dilogie endet mit einem Knall und es bleibt abzuwarten, wie die Geschichte im zweiten Band weiter- und ausgeht.

Mehr zum Buch erfahrt ihr auf dem Blog der Autorin: bakerstreettales.com

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Graham Moore „Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“

Es ist eine allgemeine bekannte Tatsache, dass Sherlock Holmes seinem Schöpfer Arthur Conan Doyle zu einem gewissen Zeitpunkt einfach nur noch zuwider war. Auf einer Tour durch die Schweiz entdeckte Arthur Conan Doyle das Grab von Sherlock Holmes….
Die Reichenbachfälle.
Soweit die Realität.
Graham Moore nimmt dies als Ausgangssituation für seine Geschichte über Arthur Conan Doyle und die Geschichte um die Jagd nach dem fehlenden Tagebuch.
In wechselnden Kapiteln wird die Geschichte von Arthur Conan Doyle und von Harold White erzählt, der sich in unserer heutigen Zeit auf die Suche nach Arthur Conan Doyles Tagebuch macht. Der Charme der viktorianischen Zeit trifft auf die Unwägbarkeit der Moderne. Denn eins ist klar, warum sollte man nur ein Rätsel ein einem Buch verstecken, wenn man schon direkt zwei Geschichten erzählt?
Arthur Conan Doyle fühlt sich befreit, nachdem er Sherlock Holmes die Reichenbachfälle herunterstürzen ließ, doch die Leserschaft dankt es ihm nicht. Er, der große Schöpfer, wird angefeindet und als er selbst eine Bombe erhält, fühlt sich Scotland Yard nicht verpflichtet weitere Ermittlungen durchzuführen. Schließlich macht er sich selbst auf die Suche, wendet Holmes‘ Methoden an und kommt der Wahrheit sehr schnell nahe, welche ihn in ein tiefes Dilemma stürzt.
Harold White ist glücklich, endlich gehört er dazu. Auf einem großen Sherlock Holmes Treffen wird er in die Gemeinschaft aufgenommen und schnell wird seine Kombinationsgabe auf die Probe gestellt. Als der Finder des verschollenen Tagebuchs während des Kongresses stirbt, ist es an Harold sich auf die Spur des Mörders zu begeben. Schließlich ist die Lösung ein „elementares“ Bedürfnis für die Gemeinschaft und keiner will sich auf die Polizei verlassen. Die Suche bringt ihn nach England, wo er verfolgt und gejagt wird und schließlich muss er auch einen großen Betrug aufdecken.
Sprachlich und strukturell könnte das Buch kaum besser sein. In beiden Geschichten wird man an Holmes und Watson erinnert, da sowohl Doyle als auch White einen Kompagnon zur Seite gestellt bekommen, um die jeweiligen Rätsel zu lösen.
Charmant mit der Gaslight-Romantik auf der einen und spannend mit der Verfolgungsjagd auf der anderen Seite bietet das Buch eine wundervolle Unterhaltung, die gerade Sherlock Holmes Fans lieben werden. Die Lösungen des Problems mögen den einen oder anderen Leser schockieren, doch in sich sind beide Geschichten stimmig und eine Hommage an Sherlock Holmes und seinen Schöpfer.

4 von 5 Detektiven

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Graham Moore „The Sherlockian“

Nicht nur Sherlock Holmes, sondern auch dessen Schöpfer – oder auch: „Watsons literarischer Agent“ – Arthur Conan Doyle hat mit der Zeit ein fiktionales Eigenleben entwickelt. So auch in „The Sherlockian“ (dt. „Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“), in dem er zusammen einen von zwei Handlungssträngen bestreitet.

Im Jahre 1900: Zu Arthur Conan Doyles Missfallen, sieht Scotland Yard keine Veranlassung, einen Briefbombenanschlag auf ihn, der offenbar mit dem Tod eines Freudenmädchens in Zusammenhang steht, aufzuklären. Gemeinsam mit seinem Autorenkollegen Bram Stoker beschließt er, selbst zu ermitteln. Im Jahre 2010: Der junge Holmes-Fan Harold White nimmt an einer Convention teil, an dem das lange verschollene Tagebuch von Sir Arthur Conan Doyle aus dem Jahre 1900 präsentiert werden soll. Der Finder des Tagebuchs wird jedoch am Tage der Präsentation tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden. Die Niederschrift Doyles ist verschwunden. Gemeinsam mit der Journalistin Sarah beginnt Harold mit den Ermittlungen …

Graham Moore gelang mit „The Sherlockian“ ein bemerkenswerter Hybrid aus modernem und traditionellen Krimi, aus Pastiche und eigenständigem Werk. Der Handlungsstrang im Jahre 1900 mutet in seiner Machart ganz wie eine verlorene Sherlock Holmes Geschichte an, in der eben Arthur Conan Doyle und Bram Stoker anstelle von Holmes und Watson ermitteln. Die Ermittlungen von Harold und Sarah sind anfänglich auch in diesem Fahrwasser, vermitteln mit Tempo und Thrill, aber auch mit Emotionen das Gefühl eines modernen Kriminalromans. Beide Stränge sind stark und dicht genug gewoben, um jeweils einen eigenen Roman tragen zu können. Durch die Vereinigung erhält man also quasi zwei starke Romane in einem Buch.

Handwerklich ist „The Sherlockian“ ein Hochgenuss. Graham Moore versteht es, mit Worten umzugehen. Beide Händlungsstränge steigern konstant die Spannung und wissen durch die ganze Bandbreite der Emotionen den Leser zu fesseln. Harold und Sarah begeistern als Ermittlerteam ebenso wie Arthur und Bram. Angesichts dieser Stärken geraten die zahllosen, gelungenen Anspielungen und Seitenhiebe auf die sherlockianische Welt fast schon zur Nebensächlichkeit.

Ein kleiner Wermutstropfen stellt der Ausgang dar. Nicht, weil das Finale schlecht wäre, sondern weil es (in beiden Händlungssträngen) genau das ist, was ich ab der Hälfte vermutet habe. Es möge nun jede/r für sich selbst entscheiden, ob ein Kriminalroman einfach nur „schlüssig und fair geschrieben“ ist, wenn aufmerksame Leser auf die richtige Spur kommen – oder der Autor nicht geschickt genug abgelenkt hat.

Fazit: Trotz des Ausgangs eine uneingeschränkte Empfehlung.

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